The Greatest Schnuck of All. Über Väter und Töchter im Film «Toni Erdmann»

Von Andrea Seier

Ursprünglich veröffentlicht im Gender-Blog der Zeitschrift für Medienwissenschaft.

 

Im Kino gewesen, gelacht. Und auch manchmal fast geweint. Über Mrs Schnuck und Toni Ördman, über 68er und ihre Kinder, über Väter und Töchter und über Käsereiben, die zwischen ihnen stehen, ohne als Reibungsfläche zu taugen.

Maren Ades toller Film1 lässt mit Ines und Toni nicht nur Generationen und Geschlechter aufeinandertreffen, sondern, damit eng verknüpft, männliches Individuum und weibliches Dividuum. Und dieses Aufeinandertreffen ist nicht nur klug arrangiert, es gibt auch Anlass zum Nachdenken. Allerdings weniger über die Abgründe, die sich zwischen Vätern und Töchtern oder zwischen Musiklehrern und Unternehmensberaterinnen auftun, als über die Frage, warum der Film – seinem Titel entsprechend – den Vater und Musiklehrer ins Zentrum rückt, anstatt die Tochter und Unternehmensberaterin. Mich hätte Whitney Schnuck (noch) mehr interessiert als Toni Erdmann, und das nicht nur aus geschlechterpolitischen Gründen. Auch aus purer Neugier, denn in meiner Wahrnehmung wird der unentschlossenen Empfängerin der Käsereibe und ihrer Sicht der Dinge ganz generell im Kino immer noch weniger Aufmerksamkeit geschenkt als dem hilflosen Überbringer der Käsereibe. Es geht bei diesem Argument ja nicht um die Frage, wieviel männliche und weibliche Figuren in Filmen vorkommen, sondern um die Sicht- und Wahrnehmungsweisen. Wäre die Perspektive der Tochter nicht viel interessanter, zeitgemäßer gewesen als die des Vaters? Warum wird hier mein Blick auf die Tochter so stark durch die Linse des Vaters gezogen? In einem anderen tollen Film von Maren Ade mit dem Titel «Alle Anderen» gibt es dieses Problem nicht, warum hier? Diese Frage hat mich im Kino umgetrieben. Und in vielen Gesprächen nach und über den Film wurde ich immer wieder darauf hingewiesen, dass ja alle etwas anderes in ihm sehen, je nach Alter, Familiengefüge, Geschlecht. Das mache ihn aus. Das stimmt, ist mir als Antwort aber zu unbefriedigend. Wofür gibt es denn Gesellschafts- und Gendertheorien überhaupt noch? Doch nicht dafür, um zu argumentieren, dass wir alle ohnehin etwas anderes in Filmen sehen.

Mir fällt ein, dass das Thema des Films Toni Erdmann in Kurzform auch in einem Song von Peter Licht festgehalten ist, hier allerdings aus der Perspektive des Sohnes: «Ihr lieben 68er», heißt es da, «Ihr könnt machen was ihr wollt, Ihr habt Euch ja befreit. Aber bitte ruft uns nicht an.» Der nölig-trotzige Song endet nach einigen Beschwerden über die befreiten 68er mit der überraschenden Zeile: «Vielleicht rufen wir an».  Und das Tolle an Toni Erdmann ist, dass auch er dieses Changieren zwischen «Bitte ruft uns nicht an» und «Vielleicht rufen wir an» durchspielt, in vielen Feinheiten, ereignishaft und ergebnisoffen. Meines Erachtens ist aber auch auffällig, dass er praktisch die umgekehrte Perspektive einnimmt und uns einlädt, den Blick des 68-Vaters auf die Business-Tochter zu werfen. Und das stört das Vergnügen an dem in vieler Hinsicht sehr genauen und dramaturgisch mutigen Film.

Die umwerfend gute Sandra Hüller spielt die beruflich erfolgreiche Tochter Ines, die von ihrem Vater überraschend Besuch bekommt, und das ist viel zu harmlos ausgedrückt. Ines’ Vater dringt als selbst erdachte Kunstfigur Toni Erdmann gewaltsam in den Business-Alltag der Tochter ein, was in nicht besonders wahrscheinlichen, dafür aber umso toller ausgedachten und mit filmischen Konventionen klug arbeitenden Szenen erzählt wird. Im Kino wird viel gelacht über Toni Erdmann und der Humor wird in vielen Rezensionen (epd, FAZ, WELT, Cargo, oder zur Oscar-Nominierung im Spiegel) als hintergründig, bedacht und verspielt eingestuft. Zu Recht.

Und dennoch drängt sich immer wieder die Kapitalisierung der sogenannten Menschlichkeit auf, die der Film zwischen Vater und Tochter zugunsten des Vaters verteilt. Die Tochter ist ein vom beruflichen Erfolg korrumpiertes Dividuum, sie ist selbst so besessen von Leistung und Erfolg, von Disziplin und Selbstführung, dass sie keine äußeren Feinde braucht. «Bist Du überhaupt ein Mensch?», fragt der Vater sie einmal. Und diese Frage würde man ihm noch nicht mal mit Plastikgebiss und Perücke ausgestattet stellen. Er selbst ist nämlich im Unterschied zur Tochter sehr wohl von der Kunstfigur Toni Erdmann zu unterscheiden. Der Tochter ist hingegen die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdregierung kaum vergönnt, obwohl der Film  nie mit platten Thesen operiert, sondern durchweg mit Nuancen und Bewegungen.

Der Film liefert durchaus auch Höhepunkte oder Plateaus im Sinne von Deleuze/Guattari, wie z.B. eine wunderbare Gesangsszene. Das Aufeinandertreffen von Individuum und Dividuum kulminiert in Ines als Whitney Schnuck, beim Empfang der Botschafterin, bei dem Ines’ Vater einen gemeinsamen Auftritt erzwingt. Er spielt Klavier und sie singt Whitney Houstons Song «Greatest Love of All». Szenenapplaus im Kino, für Sandra Hüller und für Maren Ade. (Mir hat eine Kollegin erzählt, dass sie den Song hört, bevor sie wissenschaftliche Vorträge hält, und mir hat diese Strategie sehr eingeleuchtet.)

Die Whitney-Schnuck-Szene ist auch deshalb so toll, weil sie mithilfe des Whitney Houston-Songs nicht nur den Bruch zwischen Vater und Tochter, trotz, oder besser aufgrund, der gemeinsamen Geschichte, sondern auch den fließenden Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft so gekonnt ins Bild setzt. Im Houston-Song, den Vater und Tochter vermutlich im familiären setting gemeinsam einstudiert haben, gab es noch ein Außen («they»), gegen das die eigene Würde verteidigt werden konnte und musste: «No matter what they take from me, they can’t take away my dignity» lautet die Zeile, die sich nun mal am besten laut mitschmettern lässt, sei es vor Vorträgen, auf (68er-)Tanzflächen oder, beim Kochen zu Hause.

Das Dividuum kündigt sich allerdings schon an. Es findet die größte Liebe von allen gerade nicht im Gegenüber, sondern in sich selbst: «So I learned to depend on me. I decided long ago never to walk in anyone’s shadows. If I fail, if I succeed, at least I’ll live as I believe.» Nicht mehr nach Helden und Vorbildern suchen, sondern lernen, sich auf sich selbst zu verlassen. Das Gegenüber steht als Erfüllung von Begehren nicht erst Ines (2016), sondern schon Whitney Houston (1986) nicht mehr zur Verfügung. Dieses Problem ist ja von Geschlechterfragen auch nicht ganz abzulösen: «I never found anyone who fulfill my needs, so I learned to depend on me». Hier beginnt nun der mehr oder weniger schleichende Übergang von der emanzipatorischen Selbstbefreiung zum postfordistischen Subjekt der Selbstregierung, der die Frauen, darauf hat u.a. Angela McRobbie hingewiesen, in besonderer Weise betrifft und den Sandra Hüller in sämtlichen Feinheiten anzuspielen weiß. Die «greatest love of all», die Liebe zu sich selbst, die, wie der Song behauptet, nicht nur die wichtigste ist, sondern auch «so easy to achieve», hat sich für Ines nicht nur als Trugschluss herausgestellt – selbst als Fluchtlinie funktioniert sie nicht mehr, obwohl sie – wie in Karaokebars – noch aufflackert. In der Performance von Whitney Schnuck kommt sie für Ines als leise Erinnerung zurück.

Eine andere Schlüsselszene für diese Verschiebung ist die Sexszene zwischen Ines und ihrem Kollegen. Lust und Macht sind auf eine Weise verschlungen, die die Begegnung zwischen den beiden evoziert und verstellt, ohne das dabei der Eindruck entstehen würde, dass es in der Generation der 68er immer schon bessere Alternativen gegeben hätte. Auch eine kluge Szene also, die in keine Falle tappt.

Wie die Sexszene scheint auch die Nacktparty ein Indiz dafür zu sein, dass die Suche nach einem möglichen ‹Ausbrechen› nur sehr schmale und vorgezeichnete Wege kennt, wenn sie nicht als Idee selbst längst obsolet ist. Anti-Ödipus nicht in Sicht. Vervielfältigung der Beziehungen und Wünsche: Fehlanzeige. Das Anderssein und die Abweichung wird hier genauso als Pflichtaufgabe durchgespielt wie das Bedienen der Konventionen, das der Job tagtäglich notwendig macht. Abweichung und Ausbruch werden nicht zuletzt auch als Einpflanzungen des Vaters lesbar, die ihre befreiende Wirkung auch deshalb verfehlen müssen. Ist Whitney Schnuck denn gar nicht zu retten? Mit Nacktparties jedenfalls nicht. Also doch nur mit Toni Erdmann, der zugegebener Weise nicht mehr ganz so menschlich aussieht am Schluss des Films?

Warum hat diese intelligente Frau nicht mehr Distanz zu sich selbst und ihrem Job? Und wenn sie am Ende einen Hauch davon gewinnt, woher kommt sie, wenn nicht vom Vater? Von wem wird ihr der Abstand zu sich selbst vorenthalten? Von der Regisseurin Maren Ade? Oder sind es die Bedingungen ihrer turbokapitalistisch durchdrungenen Existenzweise, die ihr keine Distanz erlauben? Maren Ade zeigt ihren ZuschauerInnen eine Tochter, die wenig bis gar keinen Abstand zu ihrem gewählten Lebensentwurf aufweist. Und ich werde den Eindruck nicht los, dass das, was ihr fehlt, nicht Grundeinkommen ist (nur mal als eine Möglichkeit), sondern am Ende doch vom Vater nahegebracht wird, selbst wenn man alle Brüchigkeit, die mit der Vaterfigur verbunden ist, miteinrechnet. Der Vater bleibt menschlich unter dem Fell. Bei ihm ist das Innen und Außen noch intakt.

Ines kommt hingegen in der filmischen Verteilung von Humankapital› ziemlich schlecht weg. Auch deshalb ist die Whitney Houston-Szene so wichtig. Weil sie im Gesang nicht nur ein «Tier» ist, wie ihr Chef sie mal anerkennend bezeichnet.

Das beruflich erfolgreiche Tochter-Tier macht dem Vater durchaus an vielen Stellen des Films klar, dass sie das Außen, auf das der Vater noch so naiv zugreifen kann, nicht mehr zur Verfügung hat. Bewusst ist ihr dieses Dilemma wohl schon. Machttheoretisch argumentiert der Film hier präzise. Aber heißt dann der Satz aus dem Whitney Houston Song «they can’t take away my dignity» für Ines, dass da gar nichts mehr ist, was man ihr noch nehmen könnte? Kein «they» und erst recht keine «dignity»? Kein Tier Werden, das doch auch ein nicht-menschlich Werden im produktiven Sinne sein könnte?  Ich hätte es ihr so gewünscht. Please, give her a sense of pride, to make it easier … Freiheit für Whitney Schnuck, Freiheit von Unternehmensberatungen UND von der Last der Menschlichkeit!

Dietmar Dath, Jetzt mach mir hier aber mal bitte keine Zähne, in: FAZ, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/video-filmkritiken/maren-ades-toni-erdmann-im-kino-14337456.html, 13.7.2016
Anke Sterneborg, 24.6.2016, Filmkritik zu Toni Erdmann, https://www.epd-film.de/filmkritiken/toni-erdmann
Hanns-Georg Rodek, Jetzt müssen Sie Toni Erdmann einfach sehen!, in: WELT, 15.7.16, https://www.welt.de/kultur/kino/article157023341/Jetzt-muessen-Sie-Toni-Erdmann-einfach-sehen.html
Ludger Blanke, The Greatest Love Of All, Oder wie Maren Ade das Kino rettet: Toni Erdmann, in: cargo, Nr. 30, S. 9, online http://www.cargo-film.de/thema-reihe/berliner-weltkino/greatest-love-all/, 22.6.2016

OT: Toni Erdmann. Deutschland, Österreich 2016 – 162 min. Regie: Maren AdeDrehbuch: Maren AdeProduktion: Maren Ade, Jonas Dornbach, Janine Jackowski, Michel MerktKamera: Patrick OrthSchnitt: Heike ParpliesVerleih: NFP Filmverleih – Besetzung: Sandra Hüller, Peter Simonischek, Michael Wittenborn, Thomas Loibl, Trystan Pütter, Hadewych Minis, Lucy Russell, Ingrid BisuKinostart (D): 14.07.2016IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt4048272/fullcredits?ref_=tt_ov_st_smVerleih: http://www.nfp-md.de


1. Toni Erdmann